Von Chefredakteur WULF MÄMPEL
VORSPANN: Professor Dr. Erhard Meyer-Galow hat in seinem neuen Buch „Business Ethics 3.0—The New Integral Ethics from the Perspective of a CEO“ eine dringend notwendige Ethik für die Wirtschaft entwickelt. Wir sind mit der judäisch-christlich geprägten Ethik in eine Sackgasse geraten und alle Ethikrichtlinien helfen nicht, wenn Manager unter Druck geraten oder zu gierig werden. Woran liegt das und welche Lösungswege gibt es? Die tägliche sichtbare Unmoral scheint wie ein Eisberg zu sein: Man sieht nur ein Sechstel. In der heutigen global vernetzten und digitalisierten Welt kommt alles zu Tage und das ist gut so. So wird der Druck grösser, Veränderungsprozesse einzuleiten und eine nachhaltige Ethik als Treiber für einen zukünftigen Erfolg in der Wirtschaft zu verstehen, die zu mehr Achtsamkeit und Mitgefühl führt. Das Ergebnis ist, bei allem berechtigten Streben nach Gewinn und Wertsteigerung, eine stabile psycho-somatische Gesundheit am Arbeitsplatz, Motivation, Engagement für unsere Gesellschaft und Kreativität, die zu dringend notwendigen Innovationen führt.
Es wird so viel über Ethik im Berufsalltag gesagt, dass es schon auffällt: Liegt da etwas im Argen?
Meyer-Galow: Trotz aller Bemühungen um mehr Ethik und Moral werden weiterhin Bilanzen gefälscht, Preise abgesprochen, Korruption in vielfältiger Art betrieben, die Umwelt verschmutzt und Mitarbeiter unter Druck gesetzt und seelisch verletzt. Diese Verhaltensweisen schaden unserer Gesellschaft und sind deshalb unmoralisch. Oft hat man den Eindruck, dass Manager diese Aktionen als Kavaliersdelikte abtun, will man doch stets das Beste für das Unternehmen. „Leistung ist Alles!“ ist das egozentrische Credo der Manager. Um die Verhaltensweisen zu verstehen, muss man sich der Frage zuwenden, weshalb Menschen, oft auch sogenannte Gutmenschen, sich plötzlich unerwartet unmoralisch verhalten. Da hilft uns die Tiefenpsychologie von C.G. Jung. Danach sind wir beides: Gut und Böse. Die Kernfrage ist, wie wir mit unseren dunklen Anteilen umgehen. Wenn der Mensch nur gut sein darf, unterdrückt oder verdrängt er seine Verhaltensweisen, die nach aussen nicht bekannt werden dürfen, in seinen Schatten. Unter Druck übernimmt dieser Schatten die Regie über unser Tun. Eine freundliche Maske wird aufgesetzt und soll unsere Unmoral verbergen.
Mein Lehrer Dürckheim bringt es auf den Punkt: „Diese Menschen, oft tüchtige, gebildete, ordentliche und wohlmeinende Menschen, sind derart im Leistungswahn befangen, das heisst im Wahn, das Leben nur im Zeichen erfolgreicher Leistung bestehen zu können, dass sie ernsthaft glauben, ihre ganze Innerlichkeit verdrängen zu müssen. Der Mensch aber, der diesem Bild entspricht, ist trotz allem, was er hat, weiss oder kann, innerlich ein Kind geblieben, denn seine Seele blieb klein. Äusserlich ein Erwachsener, aber innerlich unreif, steht er unbeherrscht und voller Illusionen den Mächten des Schicksals gegenüber und scheitert endlich am Leben, weil er sich selbst gegenüber versagt hat.“ Er wird psychisch und körperlich krank. Burnout, Depression, Angststörungen und Aggressionen sind die Folge. Woran erkennt man diese Menschen. Ganz einfach: Sie wollen ständig gelobt werden, sind schnell beleidigt und Schuld sind nur die anderen.
Deshalb bin ich zu der Erfahrung gekommen, dass man eine „nachhaltige“ Ethik nicht lehren und lernen kann, denn sie ist letztendlich das Ergebnis eines inneren Wachstumsprozesses, zu dem man den Menschen nur Impulse geben kann.
Was macht in unseren Tagen den Erfolg einer modernen Führungskraft aus?
Meyer-Galow:Eine moderne Führungskraft der Zukunft hat für mich beides: Fachkompetenz, Disziplin, Fleiss, Erfolg, Kommunikations-und Motivationsstärke, Führungskompetenz in der Aussenwelt und innere Reife, die zu Gelassenheit, Achtsamkeit, Empathie, Mitgefühl und zu einer Bündelung aller Energien auf das Wesentliche führt. Beförderungen sollten innere Reife und äusseren Erfolg gleichermassen berücksichtigen. Denn nur, wer mit sich selbst im Reinen ist, kann mit anderen fürsorglich umgehen (H.E. Richter). Nach meiner Erfahrung führt auch innere Reife wesentlich leichter und nachhaltiger zu äusserem Erfolg. Wie gelangt man zu innerer Reife? Indem man immer wieder mit Achtsamkeit als Eingangstor übt, seinen Neocortex auszuschalten und sich nach innen zu wenden. Es gibt viele Wege. Es gibt die mystischen Wege aller Religionen, die Weisheitslehren (Meditation), die Quantenphysik und die Neue Physik, die sich mit der Bewusstseinsforschung verknüpft. Für den Dalai Lama ist Ethik wichtiger als Religion. Recht hat er! Alle Wege führen zu der gleichen Erkenntnis. Man kann Achtsamkeit auch in Erfahrungsräumen wie Natur, Kunst, Musik, Malerei, Tanz üben. Der ganze Alltag bietet Chancen genug.
Wenn ich mir die Lage der Top-Manager in einigen großen Konzernen anschaue, dann ist dort eine gewaltige Schieflage entstanden. Ich erinnere nur an die fatale Diesel-Debatte in der Automobil-Branche.
Meyer-Galow: Es gab immer Schieflagen bei Topmanagern. Das wir sie heute gewaltiger empfinden, liegt daran, dass in der globalen digitalisierten Welt der Wettbewerbsdruck enorm zugenommen hat und alle Unmoral irgendwann durch die Medien bekannt wird. Ich möchte ausdrücklich betonen, dass nicht alle Topmanager unmoralisch handeln. Es gibt zahlreiche, auch mir bekannte Topmanager, die, innerlich zur ganzen Person gereift, auch unter Druck stets ethisch und moralisch handeln. Die werden aber leider in den Medien nicht ständig hervorgehoben. Mein Appell zur Änderung des Verhaltens geht aber an die in ihrer kindlichen Sozialisation steckengebliebenen Manager. Zur Automobilbranche: es ist für mich zunächst einmal verständlich, aber überhaupt nicht akzteptabel, dass Manager jahrelang bewusst gegen Gesetze und Richtlinien zum kurzfristigen Vorteil ihrer Unternehmen und zum Vorteil der eigenen Person verstossen, offensichtlich andere und die Umwelt schädigen und sich damit unmoralisch verhalten. Diese meine Beurteilung setzt allerdings voraus, dass diese Gesetze und Regularien in der Automobilbranche gerechtfertigt und sinnvoll sind. Das kann ich nicht beurteilen. Es könnte ja auch sein, dass die Regulierungen die Unternehmen ungerechtfertigt schädigen. Bei den Banken kann man ja ähnliches verfolgen.
Was war der Stein des Anstoßes, sich diesem großen Thema intensiv zu widmen?
Meyer-Galow:Bei einem Seminar über „Würde und Humanität in der Wirtschaft“ beim Weltethos-Institut der Universität Tübingen erfuhr ich von einem geplanten Buchprojekt mit der FU Berlin über eine neue Ethik für die Wirtschaft. Ausgangspunkt war die Aussage des amerikanischen Wirtschaftsethikers John Maurice Clark vor 100 Jahren „Being Responsible Equals Being Proftable“, also die Frage, ob nachhaltiger Gewinn ein verantwortliches Handeln voraussetzt oder nachhaltiges Handels stets zu Gewinn führt. Hat diese Behauptung Früchte getragenob und wenn nicht, wie eine nachhaltige Ethik heute aussehen muss. Verfasser waren Ethikprofessoren, die sich akademisch mit der Frage beschäftigt haben. Anfangs war ich dabei, aber mein Beitrag war den Herausgebern nicht wissenschaftlich genug. Ich wollte mehr pragmatisch schreiben und so in der Wirtschaft wirklich etwas verändern. Also habe ich alleine weitergeschrieben und das führte dann zu dem vorliegenden Buch. Ich wollte aus meiner praktischen Erfahrung als Vorstandsvorsitzender und aus meinem eigenen inneren Reifungsprozess aus den Quellen der Tiefenpsychologie, der Weisheitslehren und der Quantenphysik das Thema angehen. So erläutert das Buch, weshalb sich das Individuum unmoralisch verhält, wie man sich zu einer ethisch gefestigten Person entwickeln kann und wie man in der Praxis diese Erkenntnis anwenden kann.
Ich habe selbst viele junge Manager erlebt, die sich kaum noch ernsthaft um die Firma, die Mitarbeiter und die Stadt kümmern, in der sie arbeiten, weil sie schon auf der Durchreise sind nach einem höheren Gehalt und fetteren Boni – was hat sich da verändert?
Meyer-Galow: Burnout, Depression und Angststörungen nehmen bei diesen „Young Professionals“ beängstigend zweistellig ebenso wie der Psychopharmakaverbrauch, um arbeitsfähig zu bleiben. Die in der Frage angesprochene Orientierung steht im Vordergrund. Die Chicago School of Economics hat für die OECD Richtlinien zu Ausbildung und Bildung entwickelt. Die Mitgliedsländer haben diese Richtlinien übernommen, die zum Ziel haben, an den Schulen und Universitäten „Human Capital“ für die Wirtschaft zu produzieren. Inhalte, die zu einer wahren ganzheitlichen Bildung und innerem Wachstum führten, verschwanden. Also kommt auch Wirtschaftsethik in der Ausbildung nicht mehr oder zu wenig vor. Die jungen Leute wollen viel Geld verdienen, egal wo und wie. Erfreulicherweise gibt es Gegenbewegungen wie „Wisdom 2.0“ in USA, denen sich besonders die Firmen des Tech Sektors angeschlossen haben. „Mindfulness and Compassion“ stehen im Vordergrund auf dem Weg zu einer befriedigenden „Work-Life-Balance“. Wenn sich 3000 Mitarbeiter von Google in einem Brief an den Vorstand gegen militärische Projekte aussprechen, dann sieht man erste positive Zeichen. Auch in Deutschland wächst die Erkenntnis, aber leider erst bei denen, die in ihrer Krankheit nachdenklich geworden sind, ob Leistung wirklich alles im Leben ist.
Welchen Einfluss wird die rasante Entwicklung auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz auf die Arbeitswelt nehmen?
Meyer-Galow:KI wird ähnlich wie IT die Arbeitswelt gravierend und rasant verändern. Die Protagonisten bemühen sich nur die positiven Seiten hervorzuheben. Die Kritiker streuen Weltuntergangsstimmung. Die Frage, ob KI gut oder schlecht für uns ist, kann ich ganz einfach mit C.G. Jung beantworten. Eines seiner bekanntesten Zitate lautet: „ Die ganze Welt hängt an einem seidenen Faden und das ist der Mensch mit seiner Psyche—und davon wissen wir viel zu wenig.“
Lassen Sie mich das abwandeln KI betreffend:
Die zukünftige Auswirkung von KI auf unsere Gesellschaft hängt an einem seidenen Faden und das ist die Psyche derjenigen, die KI entwickeln und anwenden.
Die unterentwickelte Psyche einer in seiner kindlichen Sozialisation steckengebliebenen Person ist stets Opfer seiner dunklen Seite, es sei denn die Psyche ist innerlich gewachsen und kann die dunkle Seite so integrieren und kontrollieren, dass kein Schaden entsteht. Wenn ich mir die psychische Situation unserer Gesellschaft verdeutliche, bin ich nicht sehr optimistisch dass aus KI nur Gutes entsteht.
Müssen wir all das tatsächlich machen, was wir können oder gibt es auch die Meinung, dass wir dem lieben Gott nicht ständig ins Handwerk pfuschen sollten? Nur weil die Innovation zum Götzen erhoben wird?
Meyer-Galow:Innovationen sind wichtig zur Lösung der vielen Probleme auf unserer Erde. Ob sie positiv genutzt werden oder zum Schaden sind, hängt wie gesagt vom inneren Reifegrad der Entscheidungsträger ab. Lassen Sie mich als Chemiker ein Beispiel bringen: Sie können Chlor als Desinfektionsmittel oder damit chemisch Pharmawirkstoffe herstellen, aber Sie können Chlor auch, wie im Ersten Weltkrieg geschehen, als Kampfgas einsetzen.
Wir Menschen werden immer älter, da Medizin und Pharmazie mit immer besseren Produkten aufwarten, ist die Frage nach dem künftigen Verhältnis der Generationen berechtigt: Klappt es denn mit Jung und Alt wirklich?
Meyer-Galow:Der Anteil der Älteren an unserer Gesellschaft wird immer grösser und der der Jüngeren immer kleiner. Es wird immer wieder über den Generationenvertrag diskutiert. Früher wohnten wir alle unter einem Dach. Die individuelle Egozentrik treibt uns aber auseinander. Das Interesse des Ego steht über dem Interesse des Wir. Das ist der Zeitgeist. Wir Ältere können die Zuwendung der Jüngeren aber nicht einklagen und die unsere Zuwendung auch nicht. Wir müssen uns gegenseitig wieder den Respekt, das Mitgefühl und die Fürsorge verdienen. Im Alter nimmt alles ab, nur die Weisheit, die aus dem inneren Wachstum kommt, nicht, sofern wir Ältere das Wachstum der Weisheit nicht durch Konsum, Entertainment, Zerstreuung und Ablenkung ständig behindern. Wenn die Jüngeren mit ihrer egoistischen materiellen Orientierung am Ende sind, werden sie sich nach innerem Wachstum sehnen. Dann und erst dann sind die Generationen wieder auf dem Weg zusammen zu wachsen.
Wie werden wir künftig glücklich leben: Mega-Polis oder Moloch?
Meyer-Galow:Glück definiert jeder anders. Für mich besteht Glück nicht aus der Befriedigung äusserer Bedürfnisse, sondern aus der inneren Weisheit, die uns mit allen und allem verbindet. Diese Glückserfahrung ist völlig unabhängig von einer Mega-Polis oder einem Moloch. Das Ego hat Angst vor der Mega-Polis, das Innere Selbst (C.G. Jung) nicht.
Zur Verdeutlichung möchte ich mal nach Bhutan schauen, einem der ärmsten Länder der Welt, in dem ich seit 25 Jahren mit ProBhutan e.V. Projekte im Gesundheitswesen realisiere.
Im „Bruttosozialglück“, das dort wichtiger ist als das „Bruttosozialprodukt“, ist Glück anders als im Westen multidimensional. Es kann nicht als subjektives Wohlbefinden definiert werden und es ist nicht annähernd ausgerichtet auf ein Glück, das mit dem eigenem Ich beginnt und endet, sich nur um seine eigene Glücksbefriedigung kümmert. Der „Glückspfad“ in Bhutan ist holistisch und kollektiv, auch wenn er tief im Inneren persönlich erfahren werden kann. Bhutan ist davon überzeugt, dass eine nachhaltige, wohltuende, vorteilhafte und günstige Entwicklung einer Gesellschaft nur erreicht werden kann, wenn materielle und spirituelle Entwicklungen Seite an Seite gleichzeitig gefördert werden, um sich gegenseitig zu ergänzen und zu unterstützen.
Wir werden also zukünftig nur glücklich leben, wenn wir lernen das Glück, das aus dem Inneren kommt, in diesem Sinne zu erfahren, zu entwickeln und andere spüren zu lassen.
Sie haben mehrere Bücher zu diesen Themen verfasst, glauben Sie, dass der zukünftige Mensch aus seinen Fehlern lernt, dass er klüger wird?
Meyer-Galow: Nun, der Mensch lernt immer aus seinen Erfolgen und Fehlern. Er wird auch klüger mit seinem Denkvermögen. Seine Ratio nutzt er für Gutes und Böses. Aber gerade dieses doch sehr begrenzte individuelle Denkvermögen vereinsamt uns und steht uns im Weg für eine viel grössere Bewusstseinsdimension, die sich aus einer Wirklichkeit heraus entwickeln kann, die man Gott, Allah, Jahweh, Brahman, Leere, Höheres Selbst oder Quantenfeld nennen kann. Es ist das Bewusstsein, das Alles mit Allem verbunden ist und wir Menschen den Auftrag haben, die Evolution in diesem Sinne der Achtsamkeit, Verbundenheit und des Mitgefühls voranzutreiben. Diese Art von Liebe, das heisst die Erfahrung und Wertschätzung des miteinander verbunden seins, ist letztendlich der „Urquell des Kosmos“ (H.P.Dürr)
Ohne jeden Zweifel sind wir wohl auf dem Weg uns von unserem Zeitalter des „Mentalen Bewusstseins“ in ein Zeitalter des „Integralen Bewusstseins“ zu entwickeln (Jean Gebser, Ken Wilber). Es gibt viele Helfer, die die Errungenschaften des mentalen Bewusstseins derzeit zerstören und noch zu wenige, die den Geist des integralen Bewusstseins bereits in sich tragen und verbreiten. Wir werden aber täglich mehr.
C.G. Jung wurde in einem BBC-Interview gefragt, wie lange denn noch dieser, oft auch apokalyptische Umbruch, den wir heute in den Medien täglich erleben müssen, dauert. Er bedauerte die Generationen nach ihm und sagte: „Ich schätze 600 Jahre!“
Ich hoffe, dass er nicht Recht behält.