von Erhard Meyer-Galow
Download des Vortrages als PDF
Warum dieser Vortrag?
Die für die Wirtschaft entwickelte Neue Integrale Ethik leitet sich von der Tiefenpsychologie nach Jung und Neumann, der Quantenphysik, den Weisheitslehren des Westens und Ostens sowie von meiner Managementerfahrung in der Wirtschaft ab.
Wenn man sich heute die unmoralischen Verhaltensweisen in der Wirtschaft anschaut, und diese nicht nur aktuell bei VW, dann muss man sich die Frage stellen, warum alle Bücher, Vorträge, zahlreichen Appelle und Richtlinien, Gesetze und ernstzunehmenden Beteuerungen für eine nachhaltige Ethik und moralisches Verhalten wenig nützen.
Es hilft wenig, dem Kollektiv ständig Ethik und Moral zu predigen, wenn die Individuen, die dieses Kollektiv bilden, in ihrer rational einseitigen Egozentrik steckengeblieben sind und ihre eigentliche Aufgabe im Leben, ihre Individuation, in einer Balance von Körper, Ratio, Seele und Geist ganzheitlich Mensch zu werden, ständig blockieren. Dem Menschen im Anthropozän ist diese Fehlentwicklung nicht bewusst. Da er, auf seinem Weg zum stabilen Ich, die Trennung vom Numinosen vollzogen hat, weiß er nicht, warum er leidet. Er kann deshalb zu wenig Brücken zu seiner Seele bauen, die seine Führerin ins Unbewusste sein könnte, dem großen Energiepotential für sein kleines, eingegrenztes Ich-Bewusstsein. Er hat sich selbst destabilisiert, und nun soll er sich auch noch ändern, Ethik hochhalten und moralisch handeln. Wegen des Ethikdrucks der Öffentlichkeit wird er umso mehr seine dunklen Seiten unterdrücken und in den Schatten verdrängen, aus dem sich dann immer wieder seine Unmoral in der Welt plötzlich auswirkt.
* Manuskript des Vortrags zur Beratung des Akademischen Rats der Humboldt-Gesellschaft für Wissenschaft, Kunst und Bildung e.V. anlässlich ihrer 102. Tagung in Mannheim am 2. Oktober 2015
Erst wenn er dieses Versäumnis der Reifung zur Ganzheit in einer Lebenskrise schmerzlich erfährt, wird er sich auf den Weg machen und wieder Anschluss finden an seine seelische und spirituelle Dimension. Diese Wende in seinem Leben setzt aber eine Initiation voraus, also eine Einsicht nach innen. Dann kann er innerlich reifen und seine dunkle Seite in seinem Selbst integrieren und kontrollieren. Das gelingt nur mit kompetenter Führung und täglichen Übungen über Jahre hinweg. Er wird sich dann zunehmend einer nachhaltigen Ethik zuwenden und moralisch handeln, nicht weil er will und soll, sondern weil er gar nicht anders kann.
Deshalb besteht immer die Hoffnung, dass dem leidenden Menschen ein Initiationsimpuls geschenkt wird, durch Vorträge, Bücher, durch Begegnungen oder jegliche Hilfe von anderen, die schon weiter sind. Dann erst kann sich das Kollektiv langsam ändern, weil gereifte Individuen die Veränderung vorleben. Der Zweck dieses Vortrages ist es also, einen Impuls für den Wandel zu Ethik und Moral in der Wirtschaft zu geben. Dazu braucht es aber Voraussetzungen.
Was ist das RATIONALE dieses Vortrages?
Erstens ist es notwendig, das Verständnis in der Wirtschaft zu schaffen, dass unethisches und unmoralisches Verhalten nicht dauerhaft zu einem angenehmen, glücklichen Leben in geschäftlichen und privaten Bereichen führen kann, nicht für sich selbst und nicht für andere.
Zweitens versuche ich klar zu machen, dass immer nur moralisch und ethisch gut sein zu wollen, nie ein angenehmes, glückliches Leben garantieren kann, weil das durch Unterdrückung und Verdrängung aufgebaute Schattenpotential das angenehme, glückliche Leben ständig stört.
Drittens braucht es bei den Managern in der Wirtschaft eine psychische Spannung, die zur Veränderung drängt.
Viertens behandele ich die Frage, was das andere ist, das bei uns als „Invaliden einer höheren Macht“ (Herder) fehlt, und wenn es entwickelt ist, dann zu einer zufriedenstellenden Work-Life-Balance mit tiefem innerem Frieden führen kann und uns erlöst aus Leid, Angst und Stress?
Es dauert lange, um Menschen, die mit einem Energie verbrauchenden Streben nach Erfolg und Wohlstand leben, klar zu machen, dass dieses Leben nie zu dauerhaftem innerem Frieden und Freiheit führen kann. Erfolg und Wohlstand sind wie eine Droge.
Aber für eine nachhaltige Ethik und Moral brauchen wir einen inneren Frieden und eine innere Ruhe, die aus innerer Entwicklung resultiert und uns genügend
äußere Stärke und Macht gibt, um robust in der Außenwelt zu sein und von einem Kurs der verantwortungsvollen und nachhaltigen Ethik nicht abweichen zu wollen oder zu müssen.
Natürlich gibt es verantwortungsvolle und ethische Manager, aber die sind eine Minderheit. Dieser Vortrag richtet sich an die anderen; diejenigen, die in ihrer kindlichen Sozialisation stecken geblieben sind, sich unmoralisch verhalten und anderen schaden. Wie kann man deren Verhaltensweisen ändern?
Dazu eine direkt an den Leser gerichtete Vorbemerkung:
Wo immer Sie in unserer Gesellschaft arbeiten oder arbeiteten und was auch immer Sie an Verantwortung übernommen haben oder vielleicht auch hatten, der Segen Ihrer Arbeit hängt immer von der Tiefe und der inneren Reife der eigenen Person und der daraus resultierenden ethisch einwandfreien Wirkung ab. Karlfried Graf Dürckheim hat diese Einsicht den Besuchern, die aus der Wirtschaft nach Todtmoos/Rütte kamen, sehr ans Herz gelegt.
Es gibt viele Ansätze für eine Wirtschaftsethik:
Wirtschaftsethik 1.0
Diese Ethik (1) wurde größtenteils als Schadensbegrenzung praktiziert, die auf folgende Fragen antwortet:
Wie ist die Agenda für die Ethik des Unternehmens in seinem Markt?
Auf was ist seine Aufmerksamkeit und Energie bei ethischen Fragen besonders gerichtet?
Wie sollte das Unternehmen bei spezifische Krisen und Störfällen konkret agieren, um aus der Kritik der Öffentlichkeit hinaus zu kommen?
Wirtschaftsethik 2.0
Diese erweiterte Ethik (1) führt zu mehr proaktiven Schritten, um die Mission und Vision des Unternehmens, sein Verhalten in der Welt und seine Verantwortung zu klären. Die Unternehmen entwickeln Ethik-Richtlinien und Ethik-Training.
Nach der heutigen Erfahrung hat auch die Wirtschaftsethik 2.0 und die „Corporate Social Responsibility“ (CSR 2.0) als Teil von ihr in der Wirtschaft nur wenig geändert, um ein nachhaltiges moralisches Verhalten zu garantieren. Damit das Konzept funktionsfähig ist, fehlen noch einige wichtige Bausteine.
Appelle nützen offensichtlich wenig. Hans Küng (2) fordert deshalb, mehr
„Ethik braucht nicht noch mehr Appelle, sondern braucht die moralische Aktion!“
Ich stimme dem Dalai Lama zu, der mit seinem neuen Buch behauptet: „Ethik ist wichtiger als Religion.“ (3)
Die Veränderung des Individuums
C. G. Jung setzt sehr auf die Veränderung des Individuums, damit das Kollektiv sich ändern kann. Der Schatz der Erkenntnis liegt stets in der Tiefe unserer individuellen Seele. Der Jungianer Edward Edinger (4) versteht die Symbolik von Jungs Buch „Aion“ korrekt, wenn er ausführt, dass das neue Wassermannzeitalter „einzelne“ Wasserträger erzeugt. Dies bedeutet, dass die Psyche nicht mehr durch religiöse Gemeinschaften getragen wird, sondern sie wird von einzelnen Personen mit erweitertem Bewusstsein in der Welt verbreitet.
Das ist auch die Idee, die C. G. Jung in seinen Ausführungen über die anhaltende Inkarnation einführt, die Idee, dass die Menschen inkarnierende Gefäße des Heiligen Geistes werden müssen, und das auf kontinuierlicher Basis. Damit ist der stetige Individuationsprozess als Lebenssinnaufgabe gemeint.
Papst Franziskus (5) sieht das in seiner neuesten Enzyklica „Laudato Si“ verständlicherweise anders, wenn er meint, dass die Individuen wohl kaum durch Selbstverbesserung die Probleme der derzeitigen komplexen Situation lösen können. Isolierte Individuen würden ihre Freiheit und Fähigkeit, dem konsumorientierten Verhalten zu entfliehen, schnell verlieren und letztendlich die soziale und ökologische Aufmerksamkeit schnell dem unethischen Konsum opfern. Ich stimme eher Jung zu, der vor 60 Jahren in einem Radio-Interview mit BBC gesagt haben soll (6):
„Es beginnt mit ein paar Menschen mit der Vision für das neue Zeitalter. Sie werden das Licht in der Dunkelheit sein. Führer und Hoffnung. Und ein Segen für die künftigen Generationen. Unser Schicksal hängt vom Bewußtsein dieser wenigen ab, die aber mehr und mehr sein werden. Eine neue Religion steht vor der Tür.
Diese wenigen Menschen dürfen nicht den Ruf aus der Tiefe ihrer Seele verweigern. Was für eine große Ehre, heute zu leben“.
Cogito ergo sum
Aber seit Descartes „Cogito, ergo sum“ haben wir uns allzu sehr auf unser Denken, unsere Ratio verlassen und konzentriert und dabei den Kontakt zu unserer Seele verloren. Wir haben zwar viele großartige Erfindungen auf den Gebieten Naturwissenschaft, Technik, Medizin, Wirtschaft gemacht, aber um welchen Preis? Mit unserer Ego-zentrierten Weltsicht haben wir unsere humanistischen, persönlich-intrinsischen Werte verloren.
Die Ganzheit von Körper, Seele und Geist
Viele Menschen definieren Ganzheit, die das eigentliche Entwicklungsprogramm für Ihr Leben sein sollte, als die Einheit von Körper, Seele und Geist. Die Interpretation von Geist als Ratio ist ein Missverständnis und schwerwiegender Fehler. Der ganze Mensch besteht aus einer Einheit von Körper, Seele und Geist (lateinisch: corpus, anima und spiritus – griechisch: soma, psyche und pneuma). Mit Geist ist immer die göttliche, spirituelle Dimension in uns gemeint und nicht unsere Ratio, das Denken oder der Verstand. Durch diesen falschen Bezug haben wir, ohne es zu merken, unsere spirituelle Dimension einfach vergessen. Dieser Fehler ist der eigentliche Grund für viele Probleme von heute. Um die Wunden zu heilen, müssen wir wieder den Sprung vom Verstand zu der objektiven Vernunft vollziehen, die Verbindung zu unserer Seele herstellen und unsere spirituelle Dimension erfahren und entdecken lernen.
Kritik des Anthropozäns
Jürgen Manemann (7) plädiert in seiner „Kritik des Anthropozäns“ dringend für eine Neue Humanökologie als Philosophie der Hoffnung. Er bezieht sich auf Ulrich Horstmann (8) „Das Untier“, der die Weltgeschichte als eine negative Fortschrittsgeschichte darstellt, und kritisiert den immer noch andauernden Fortschrittsoptimismus Christian Schwägerls (9) in „Menschenzeit“. Er beschäftigt sich mit der vom Menschen angerichteten Umweltproblematik, der erforderlichen Nachhaltigkeit jeglichen Wirkens, die eine ethisch einwandfreie „Haltung“ des Individuums voraussetzt. Die „Menschwerdung“ als „Richtungspfad“ stellt er in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Die Kreativität ist für ihn die Ressource dafür. Er fordert die Neuentdeckung des SELBST, die Neuentdeckung der Natur und will „das Humanum im Sinne der Humanität“ im
Zentrum wissen. Es geht ihm um Selbstverwirklichung und Mitgefühl. Er lässt aber offen, wie genau das geschehen soll.
Das ist ein Ansatz im Sinne von C. G. Jung, wie er für mich auch richtungweisend ist und den ich nachfolgend ausführen werde.
Papst Franziskus kritisiert den fehlgeleiteten Anthropozentrismus und betont, dass wir die Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehungen nicht unterschätzen dürfen. Seiner Meinung nach ist die ökologische Krise nur ein kleines Zeichen der ethischen, kulturellen und spirituellen Krise der Moderne und nur zu heilen, wenn die fundamentalen zwischenmenschlichen Beziehungen heilen oder heil sind.
Wir müssen uns ändern
Julius Evola (10) beschreibt im Jahr 1982 in seinem Hauptwerk „Revolte gegen die Moderne Welt“ einen langen Zeitraum unserer Kulturgeschichte als das Versinken einer spirituellen, kulturellen und politischen Weltordnung, und er kritisiert die sie ersetzende „Moderne Welt“ in ihrer ganzen inneren Gehaltlosigkeit. Er fordert zur Revolte und Rettung auf, indem er sich an den ganzen Menschen wendet, für den Spiritualität innerstes Anliegen ist. Er lässt jedoch offen, wie denn genau der Zukunftspfad beschritten werden soll.
Manifest Globales Wirtschaftsethos
Wenn man nach einem starken Impuls für eine neue Wirtschaftsethik sucht, um die Nachteile der einseitigen Orientierung zu vermeiden und Konsequenzen für die Weltwirtschaft aufzuzeigen, muss man sich mit dem „Manifest Globales Wirtschaftsethos“ (2) beschäftigen. Nach der Finanzkrise ist die Öffentlichkeit zutiefst enttäuscht, aber die Verärgerung wird nur mangelhaft zum Ausdruck gebracht. Das Fehlen eindeutiger ethischer Standards, die die Geschäftspraktiken regeln, sei ein wesentlicher Teil des Problems.
Dieses Manifest soll verändern und ist als Diskussionsvorschlag gedacht. Es wurde am 6. Oktober 2009 im Rahmen des UN-Global Compact im UN-Hauptquartier in New York vorgestellt. Die Erstunterzeichner des Manifests sind Führungspersonen aus Wirtschaft, Politik und Religion.
Wie sieht es aus mit dem vernünftigen Wirken in der Wirtschaft?
Missbrauch und Verfall der Vernunft
Das ist der Titel des bedeutenden Buchs (11) von F. A. Hayek, Philosoph, Psychologe und Ökonom. Wenige konnten so kompetent wie er über den Riss der Ankerkette (des Verstandes zur Vernunft) schreiben. Können wir aus dem Dilemma, das wir uns mit unserem Verstand eingebrockt haben, durch Anbindung an die objektive Vernunft herausfinden?
F. A.Hayek:
„…so entspringt die gemeinsame Idee (der Hegelianer und der Positivisten), dass der menschliche Verstand sozusagen daran ist, sich an seinem Schopf aus dem Sumpfe zu ziehen, aus der allgemeinen Einstellung: dem Glauben, dass wir durch das Studium der menschlichen Vernunft von außen und als ein Ganzes die Gesetze ihrer Bewegung in einer vollständigeren und umfassenderen Weise begreifen können als durch ihre geduldige Erforschung von innen, indem wir den Prozess tatsächlich verfolgen, wie Denken und Handeln der Einzelnen ineinandergreifen…“
Der Sprung vom Verstand zur Ethik der Vernunft
In seinem Buch (12) „Der Gegenlauf—Das grausame Gesetz der Geschichte“ geht mein Freund Friedrich Gaede auf den Sprung vom Verstand zur Vernunft ein und erläutert die Notwendigkeit dazu, da sonst der aktuelle Titanismus weiter wächst. Der Gegenlauf beginnt und zerstört das anfänglich Gute.
Wenn schon der erfolgsorientierte Manager sich sehr schwer tue, das aus dem Verstand begonnene aus ethischen Gründen auf die Vernunftebene zu heben, dann solle er wenigstens begreifen, dass sein Erfolg sonst gefährdet ist. Das könnte doch auch Motivation genug sein.
Werden jungen Menschen in ihrer Ausbildung überhaupt zu Erfahrungen der subjektiven und objektiven Vernunft hingeführt?
OECD-Richtlinien produzieren Humankapital
Die OECD (13) spielt seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts nach eigenen Angaben eine zentrale Rolle bei der Bereitstellung von Indikatoren zu Bildungsleistungen und will damit die staatliche Bildungspolitik nicht nur bewerten, sondern auch zu ihrer Gestaltung beitragen. Den Plan hierzu fasste sie im
Jahre 1961 bei einer in Washington einberufenen Konferenz über Wirtschaftswachstum und Bildungsaufwand.
Das OECD-Programm sagt der gewachsenen Pluralität von Bildungszielen und Diskursen, die diese Ziele beständig reflektierten und erneuerten, den Kampf an, um sie durch eine einzige, neuartige Vorstellung zu ersetzen: In der Schule soll jener Grundsatz von Einstellungen, von Wünschen und Erwartungen geschaffen werden, der eine Nation dazu bringt, sich um den Fortschritt zu bemühen, wirtschaftlich zu denken und zu handeln. Es soll lediglich Humankapital für die Wirtschaft ausgebildet werden. Humankapital ist für mich schon an sich ein inhumaner Begriff. Dann muss man sich nicht wundern, wenn junge Menschen, die in die Wirtschaft eintreten, keine Voraussetzungen in ihrer Bildung erhalten haben für ein nachhaltiges ethisches Grundprinzip und für moralisch einwandfreies Handeln.
Das Ergebnis fehlender Ethik und Moral bringt Benedikt Herles auf den Punkt. Der Elite-Student und ehemalige Unternehmensberater nennt deshalb in seinem Buch (14) diese einseitig auf Leistung fixierten Manager „Die Kaputte Elite“.
Fredmund Malik (15) spricht sogar von „der verlorenen Generation“ hinsichtlich der Wirtschaftsethik.
Woher bekommen wir Hoffnung und Hilfe für mehr Ethik in der Wirtschaft?
Ethik in Handlungsnetzen
Peter Knauer hat in seinem Buch (16) „Handlungsnetze“ mit hoher Kompetenz Grundprinzipien der Ethik aufgezeigt, die aus seiner philosophischen und christlichen Sicht helfen können, die unmoralischen Missstände in der Wirtschaft zu verringern.
Die beste Zusammenfassung aller ethischen Reflexionen sei die „Goldene Regel“, anderen das zu tun, was man selbst an ihrer Stelle vernünftigerweise wünschen würde.
Für Knauer ist das traditionelle Prinzip der Doppelwirkung das Grundprinzip der Ethik:
„Unsere Handlungen haben häufig (wenn nicht sogar immer) mehrere Auswirkungen, von denen die einen erwünscht, die anderen aber unerwünscht sind. Um solche Handlungen zu beurteilen,
wurde in der traditionellen, von der Scholastik beeinflussten Ethik
das ‚Prinzip der Doppelwirkung‘ entwickelt.“
Das Prinzip der Doppelwirkung will auf die Frage antworten, unter welchen Bedingungen man neben erwünschten auch unerwünschte Auswirkungen zulassen oder sogar verursachen darf. Das Prinzip wird traditionell so formuliert: Die Zulassung oder Verursachung eines Schaden ist dann erlaubt, wenn
a) die Handlung nicht „in sich schlecht“ ist,
b) der Schaden nicht direkt als Zweck beabsichtigt ist,
c) der Schaden auch nicht als Mittel zum Zweck direkt beabsichtigt ist und
d) für die Zulassung oder Verursachung des Schadens ein entsprechender Grund vorliegt.
Mystik und Ethik
Braucht Ethik die Öffnung und Erfahrung der Mystik?
Karl Rahner, Religionsphilosoph und Ethiker, ist da ziemlich klar: „Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein. Einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.“
Mein Lehrer Willigis Jäger (Benediktiner, ZEN-Meister und Kontemplationslehrer) ergänzt (17):
„Die Frage nach der Ethik im Zen ist dadurch neu aufgebrochen. Aber letztlich geht es nicht nur um Zen und Ethik, sondern um die Frage: Woher kommt alle Ethik; die Ethik des Christentums und der Mystik nicht ausgeschlossen.
Alle Mystik der Welt steht auf zwei Säulen: Erkenntnis und Liebe oder, wie es in der östlichen Mystik meist genannt wird, Weisheit und Mitgefühl. Jede wirklich tiefe mystische Erfahrung führt in eine große Offenheit und Toleranz zu allen Lebewesen und zu einer allumfassenden Liebe.“
Es gibt heute eine Vielzahl von Initiativen, um Spiritualität als eine fehlende Ergänzung zur Wirtschaftsethik hinzuzufügen und daraus die Entwicklung eines ganzheitlichen Ethik-Modells abzuleiten. Das Ergebnis ist als „Spiritual-Based Ethics“ bekannt (18). Dieses Konzept schätze ich in hohem Maße.
Aber wenn ich mir mein Berufsleben von fast 40 Jahren vor Augen halte, davon
20 Jahre als Vorstandsmitglied in Chemiekonzernen, habe ich ernsthafte Zwei-
fel, dass die wichtigsten Personen in der Gesellschaft in der Lage sind, Auslöser einer Veränderung zu mehr Ethik und Moral nur dadurch zu sein, dass man sie auffordert, sich auf einen Weg des spirituellen inneren Wachstums zu begeben. Sie werden weder verstehen, was gemeint ist, noch werden sie die Notwendigkeit zu einer Veränderung ihres bisherigen Verhaltens sehen. Einer, der nie Spiritualität in seinem Sein erfahren hat, wird nicht ihre Vorteile und Bereicherung verstehen und somit nicht die Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit der Hinwendung zu mehr Spiritualität mit Priorität versehen.
Natürlich gibt es eine wachsende Gruppe von Menschen, die mit einer spirituellen Praxis begonnen haben, aber sie können in einem so genannten „spiritual flight“ blockiert sein. Sie wissen viel über Spiritualität und die Praxis spiritueller Übungen, aber wenn sie unter Druck geraten, übernimmt ihre dunkle Seite die Regie. Sie sind immer noch sehr viel auf eine durch ihr Ich-Bewusstsein reduzierte Spiritualität beschränkt.
Spiritualität ist aus meiner Sicht natürlich nicht das einzige fehlende Bindeglied, sondern eines von mehreren.
Was fehlt darüber hinaus für einen ganzheitlichen Ansatz? Weshalb reichen die Wende vom Verstand zur Vernunft, die Anwendung philosophischer und religiöser Erkenntnisse und auch das Einbringen der Spiritualität nicht aus, um das Verhalten des Individuums und des Kollektivs wirklich nachhaltig zu mehr Ethik und Moral zu beeinflussen?
Quantenphysik und Ethik
Ein anderes fehlendes Glied zur ganzheitlichen Ethik ist die Quantenphysik. Fast 100 Jahre nach Werner Heisenbergs Theorie und Erfahrung lernen wir jetzt erst, mehr und mehr, was sie für uns bedeutet. Es entwickelt sich der Fokus auf gegenseitige Verbundenheit, Kreativität, Nicht-Dualität und Nicht-Linearität, und natürlich hat diese Erkenntnis einen großen Einfluss auf die Ethik. Die Wirklichkeit, die wir Gott nennen, andere Brahman, Jahweh, Allah, Leere, Selbst, Stille usw., nennen die Quantenphysiker „Kooperatives Hintergrundfeld“, wie Hans-Peter Dürr mir oft erklärte. Dieses Feld ist leer, hat aber eine Eigenschaft, die Potentialität oder Potenz, wie mein Lehrer Willigis Jäger sagt, sich in jedem Augenblick neu als „Realität“ zu manifestieren.
Im Buddhismus heißt es: „Leere ist Form und Form ist Leere!“
Alles ist aus dieser Wirklichkeit entstanden und somit verbunden. Wenn wir also mit unserer Realität, die aus dieser Wirklichkeit entstanden ist, anderen Realitäten schaden, dann handeln wir gegen das Ethikprinzip dieser Wirklichkeit unmoralisch.
Tiefenpsychologie und Ethik
Aus meiner Sicht gibt es ein weiteres wichtiges und unverzichtbares Bindeglied zur Erreichung eines ganzheitlichen Ethikansatzes, und dieses kann der Schlüssel sein, um zu verstehen, weshalb Menschen, die nur gut sein wollen, oft völlig unerwartet unmoralische Handlungen durchführen. In der Tiefenpsychologie von C. G. Jung und Erich Neumann wird deutlich, dass die unterdrückten und verdrängten dunklen Seiten der Menschen die guten und hellen Seiten, die wir eigentlich nur sein wollen, blockieren. Aber wir sind beides, dunkel und hell. Die Integration unserer dunklen Seite ist maßgeblich und unerlässlich, wie Jung es nennt. Aber die helle Seite und unser inneres Wachstum müssen entwickelt werden, damit wir unsere dunkle Seite tragen und integrieren können. Falls kein inneres Wachstum bisher erreicht wurde, können wir leicht Opfer unseres eigenen „Dunklen Bruders/Schwester“ werden und sind schutzlos den Angriffen von anderen ausgesetzt. Wir wehren uns schnell
– unüberlegt und emotional – und handeln dann auch unmoralisch. Unser EgoVerstand ist so dominant, dass er uns gezwungen hat, uns von unseren inneren Quellen zu trennen; unseren wichtigsten Wurzeln. Wir müssen aber wieder Anschluss finden, um unsere Wunden heilen zu können und reif zu werden für Ethik und Moral.
Integrale Wirtschaftsethik 3.0
Deshalb müssen wir eine neue Wirtschaftsethik entwickeln, die über alle bisherigen Ansätze hinausgeht, diese aber auch beinhaltet und sie verbindet. Diese neue, ganzheitliche Ethik nenne ich
Integrale Wirtschaftsethik 3.0
Sie geht weit über die Ansätze der Wirtschaftsethik 1.0, 2.0 und unser mentales Bewusstsein hinaus und resultiert aus der Erfahrung eines neuen, integralen Bewusstseins.
Wenn wir Haltung und Entscheidungen der Unternehmer und die Manager in der Wirtschaft ändern wollen, müssen wir versuchen, ihre Sprache zu sprechen.
Wir haben ihnen Beispiele zu geben, um deutlich zu machen, was wir meinen. Wir müssen sie bei ihren eigenen Problemen abholen, und die sind heutzutage zahlreich. Burn-Out, Depression, Angststörungen, Aggressionen, Einsamkeit, Verlustangst, Versagensangst, Eitelkeit, usw. führen zu zweistelligen Wachstumsraten der Psychopharmaka.
Sie werden schon gar nicht auf theologische, philosophische und spirituelle Lehren und Weisungen von Menschen hören, die keine detaillierten Erfahrungen in der Wirtschaft haben, auch wenn sie hochentwickelte Konzepte vertreten. Aber Tiefenpsychologie ist meiner Ansicht nach eine mehr verständliche und deshalb leichter zu akzeptierende „Einflugschneise“ in die Wirtschaft als die Spiritualität. Viele Vertreter haben bereits oder sind auf dem Weg, schwere psychische Probleme zu entwickeln, und können nur noch durch viele so genannte Kompensationshandlungen und Projektionen überleben. Sie leiden in der Welt, in der Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit (VUCA) noch nie so hoch wie heute waren und wo disruptive Innovationen alte Technologien ständig zerstören und neue Technologien schaffen.
Wenn man sein eigenes Leiden verringern und anderen Wege aufzeigen will, ihre Leiden zu heilen, dann muss man die Hauptströmung der jetzigen Zeit verstehen. Trotz großem Engagement nützen Einzelaktionen, die die Hauptströmung nicht berücksichtigen oder gegen sie arbeiten, wenig oder nichts. Es ist schon oft tragisch, Menschen, die es gut meinen, aber wegen der nicht erkannten Hauptströmung wenig Einfluss entfalten können, bei ihren Hilfsaktionen zu beobachten.
C. G. Jung gibt uns seine Antwort (6), die er in seinen Visionen für das neue
Zeitalter erfahren hat.
Vieles zerbricht derzeit, was in den letzten 2000 Jahren meistens durch männlichen Egozentrismus aufgebaut worden ist. Täglich können wir diese Entwicklung in den Medien sehen. Die Sophia, die bisher unterdrückte göttliche Weisheit, bricht sich Bahn und schafft Neues im Sinne der nachhaltigen Weisheit. Bevor dies geschehen kann, breitet sich meistens Chaos aus.
Jung bekam von seiner Seele drei Antworten auf die Frage nach der Zukunft der kommenden Generationen:
– Krieg und Zerstörung
– Schwarze Magie
– Eine neue Religion
Seiner Meinung nach sind wir „apokalyptischen“ Entwicklungen ausgesetzt. Jung bedauerte die nach ihm kommenden Generationen. Dazu gehören wir und unsere Kinder und Kindeskinder. Krieg geschieht immer noch in einem schrecklichen Ausmaß auf der ganzen Welt. Terrorismus bedroht unsere Gesellschaften in einem bisher nie bekannten Ausmaß.
Mit Magie meinte er „Schwarze, zerstörerische Magie“, die uns ständig unsere Achtsamkeit des Augenblicks zerstört. Das könnte die Digitalisierung der globalisierten Welt sein.
Die neue Religion ist noch nicht da, die dies alles heilt und die Menschen vereint. Auf die Frage, wie lange dieses Schreckensszenario der Apokalypse dauern könn-
te, antwortete Jung in einem BBC-Interview vor 60 Jahren (6): „600 Jahre!“
50-100 Jahre des neuen Wassermannzeitalters haben wir erst hinter uns. Ich hoffe nicht, dass Jung Recht hat. Aber die schwierige und langsame Einsicht des Individuums und die daraus folgende Veränderung im Verhalten des Individuums und des Kollektivs verlaufen eben dann auch sehr langsam.
Die Händler auf dem Finanzmarkt lieben Volatilität, weil sie dann mehr Geld verdienen können, aber der Rest der Menschen leidet.
Wir sind in uns immer mehr volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig. Als Folge ist auch das Kollektiv volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig; also wie innen so außen und wie außen so innen. Wir sind selbst der Grund für dieses Dilemma und wissen es nicht. Aber wir sind in einer Welt, in der wir immer den anderen die Schuld zuweisen, eine klassische Projektion unseres eigenen Dilemmas.
Und jetzt ist es unsere Verantwortung auch noch, uns als Individuen zu verändern und damit die Welt, in der wir leben, zu verbessern. Ändern heißt, die eigene psychische „Individuation“ wachsen zu lassen und unsere spirituelle Erfahrung und unser Bewusstsein zu erweitern. Individuation ist ein Prozess der Transformation, wobei das persönliche und kollektive Unbewusste in unser Bewusstsein überführt wird.
Wenn wir die Aufmerksamkeit der Geschäftsleute gewinnen, indem wir sie über die Psyche erreichen, dann können spirituelle Themen folgen. Dann werden sie offener für Brücken zu ihrer Seele, statt zu ihrem Geist, noch nicht wissend, was Geist bedeutet (s. o.).
Braucht es nicht Jahre der Meditation, um das innere Wachstum zu erfahren?
Geschäftsleute haben keine Zeit zu verlieren bei ihrer Fokussierung auf Leistung und Erfolg. Aber nur dann, wenn sie das Gefühl haben, psychisch sich wirklich schlecht zu fühlen, und wenn ihre Leistung auf dem Spiel steht, dann werden sie auf Impulse zur Übung eines angemessenen Verhaltens reagieren und die erforderliche Veränderung ernstnehmen. Wenn sie das nicht tun, ist es nur eine Frage der Zeit, dass sie aus dem Gleichgewicht geraten und auch dann aus dem Geschäft sind.
Tiefenpsychologie kann die Vorbereitung auf einen nachfolgenden Beginn des spirituellen Trainings oder die Unterstützung während der Meditationspraxis sein. Zumindest hilft die Tiefenpsychologie, die Übungen auf einem spirituellen Weg nicht zu stoppen, wenn unser Ego-Verstand mit seiner dunklen Seite versucht, uns vom inneren Wachstum abzuhalten. Wir bleiben besser in der Spur. Innere Ruhe und eine gute Work-Life-Balance sind der Gewinn, der zu mehr Gelassenheit, Heiterkeit, Humor, Harmonie und Liebe führt. Dann ist es viel einfacher, an einer Neuen Ethik festzuhalten und moralisch zu handeln.
100 Jahre nachdem C. G. Jung sein Rotes Buch (19) geschrieben hat, das bis vor kurzem auf Grund seiner Verfügung noch geheim war und dadurch erst 2013 erschien, sind wir jetzt gut vorbereitet. Erich Neumann hilft uns zu verstehen, warum die alte Ethik auf der Grundlage der jüdisch-christlichen und griechischen Quellen es versäumt hat, die Verantwortlichen in der Wirtschaft für ein nachhaltiges Führungsprinzip zu gewinnen, das eine akzeptable Ethik und nachhaltige moralische Handlungen als oberstes Ziel hat und allen Versuchungen standhält.
Es besteht deshalb ein dringender Bedarf für eine Neue Ethik. Aus meiner Sicht ist die Tiefenpsychologie von C. G. Jung und Erich Neumann besser geeignet, eine neue Ethik zu entwickeln als beispielsweise die Sozialpsychologie, die Analytische Psychologie von S. Freud, die Gestalttherapie von Fritz Perls, der Behaviorismus, die Humanistische Psychologie, die Kognitive Psychologie oder jede Art der Biopsychologie.
Tiefenpsychologie und eine Neue Ethik
Erich Neumann hat 1948 sein sehr beachtetes Buch (20) „Tiefenpsychologie und eine Neue Ethik“ veröffentlicht, das Aufsehen erregte, aber heute leider in Vergessenheit geraten ist.
Es gibt erfreulicherweise aber wieder Kommentare aus heutiger Sicht. Erich. M. Walch (21) geht auf Neumanns Werk ausführlich ein und skizziert die Ziele und Werte einer Neuen Ethik.
Die Alte Ethik
Die Alte Ethik mit all ihren Gesetzen und Verboten einerseits und den immer nur guten Idealen und Vorbildern andererseits zwingt den Menschen, alles Negative, was dem nicht entspricht, in den Schatten zu verdrängen. So versucht der egozentrierte Mensch einigermaßen zu überleben. Er lebt hinter einer Maske (Jung, Persona), damit seine Umgebung seine negativen Anteile, wie Gier, Eitelkeit, Arroganz, Hass, Neid, Gesetzesbruch, Betrug, Lüge, Sünden, nicht erkennt.
Die Verdrängung dieser negativen Anteile in den Schatten führt zwar einerseits zu einem scheinbar guten Gewissen, jedoch gleichzeitig zur ICH-Inflation, zur Schwächung des ICHs.
Die Alte Ethik spaltet die äußere von der inneren Realität und damit Mensch, Welt und Gott in duale Gegensätze auf: in Licht und Dunkelheit, in rein und unrein, in gut und böse, in Gott und Teufel. Das Ich, das sich mit der Lichtseite zu identifizieren hat, wird dadurch in den Kampf für das Nur-Gute, Nur-Reine, Nur-Lichte getrieben. Diesen Kampf erleben wir überall. Doch dieser Kampf ist aussichtslos, denn das scheinbar besiegte Böse steht immer wieder von Neuem auf. Die Stärke des Gewissens zeigt sich in einem oft unbewussten Schuldgefühl. Dieses wird vom Schatten ausgelöst. Anstatt jedoch den Schatten anzunehmen, projizieren wir ihn nach außen. Wir suchen einen Sündenbock, der nun zum stellvertretenden Opfer wird, auf das wir die Kollektivschuld übertragen. Der kollektive SündenbockMechanismus besteht solange, wie das unbewusste Schuldgefühl vorhanden ist.
Stufen ethischer Entwicklung
Neumann zeigt den Zusammenhang zwischen ethischer Entwicklung und Bewusstseinsentwicklung auf, die mit der Geburt beginnt. Ethik beginnt immer beim Individuum. Nach Dürckheim ist der Mensch bis zu seinem dritten Lebensjahr noch in seiner Ganzheit. Aber auf dem Weg zum Kind, zum Jugendlichen, zum Erwachsenen zählt bei der Entwicklung des ICHs nur noch, was das Individuum weiß, kann und hat. Das führt zu einer stetigen Verdrängung der negativen Aspekte der Person in den Schatten und zu wachsenden Ängsten, dass man etwas nicht weiß, nicht kann und das verliert, was man hat. Auch die Ursache dieser Ängste ist uns meistens nicht bewusst.
Die Neue Ethik
Die Neue Ethik von Neumann geht deshalb immer vom Individuationsprozess des Individuums aus. Voraussetzung für die Wende hin zu einer Neuen Ethik ist oft die notwendige Erschütterung des ICH-Bewusstseins und von dessen Werten durch die Konfrontation mit der Ganzheit der Persönlichkeit und mit dem Unbewussten. Nach Jung braucht es oft eine „psychische Spannung“, damit sich der Mensch zur Änderung auf den Weg macht. Die moralische Umorientierung vollzieht sich durch die Integration des Schattens und durch die Verarbeitung der Persona.
In der neuen, ganzheitlichen Ethik wird – statt eines Teils – die gesamte Persönlichkeit als Grundlage des ethischen Verhaltens einbezogen. Dabei wird die Auswirkung der individuellen Bewusstseinshaltung sowohl auf das Kollektiv außen als auch auf das Unbewusste innen berücksichtigt.
Durch diesen Prozess erkennt man unsere menschheitliche Zusammengehörigkeit und unsere kollektive Mitverantwortung. Damit enden die Schattenprojektion, der Sündenbock-Mechanismus und der ethisch getarnte Ausrottungskampf gegen das Böse. Stattdessen gelangen wir durch das Annehmen des eigenen Bösen zu einer viel stabileren Haltung, sowohl individuell als auch kollektiv.
Ziele und Werte der Neuen Ethik
Die Hauptaufgabe der Neuen Ethik besteht aus tiefenpsychologischer Sicht in der Integration der gegensätzlichen Persönlichkeitsanteile in eine einheitliche menschliche Struktur.
Die Ganzheit der Persönlichkeit bildet auch die beste Grundlage für moralisches
Verhalten und für schöpferische Prozesse.
Der Weg des Erwachsenund Selbständig-Werdens verlangt von uns, Böses zu tun, damit wir es erkennen und verarbeiten können. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass Jung gern gesagt hat: „Nur gut ist schlecht!“
Es ist erfreulich, dass sich immer mehr Personen damit beschäftigen, die Abläufe in der Wirtschaft tiefenpsychologisch zu verstehen und Ansätze für eine Neue Ethik entwickeln.
Erschütternd ist, dass der Mensch kein starkes Motiv braucht, um seine Menschlichkeit abzustreifen, wie Milgram es nach seinen bekannten Experimenten nannte.
Das Milgram-Experiment ist ein erstmals 1961 in New Haven durchgeführtes psychologisches Experiment, das von dem Psychologen Stanley Milgram entwickelt wurde, um die Bereitschaft durchschnittlicher Personen zu testen, autoritären Anweisungen auch dann Folge zu leisten, wenn sie in direktem Widerspruch zu ihrem Gewissen stehen (Wikipedia).
Auch ohne Anweisung sind Menschen im Kollektiv darüber hinaus bereit, anderen zu schaden, wenn die Vorgesetzten und Kollegen das auch machen.
Das Lebende lebendiger werden lassen
Hans Peter Dürr (22) erklärte mir oft, dass die Wirklichkeit ein großer geistiger Zusammenhang sei und unsere Welt voller Möglichkeiten ist. Wir würden in einer viel größeren Welt leben, als uns im Allgemeinen bewusst ist. Er definierte Nachhaltigkeit als
„Das Lebende lebendiger werden lassen“.
Darum geht es eigentlich bei einer Neuen Ethik. Der Mensch sollte darauf achten, bei allen Aktionen einen Beitrag zu leisten, dass das Lebende lebendiger wird.
Wie können wir unsere Individuation vollziehen?
Jung’s Methode zur Integration des Schattens ist die „Aktive Imagination“ (23). Darunter versteht Jung einen Übungsweg zum Emporheben, Beleben und Bewahren der Bilder des kollektiven und persönlichen Unbewussten. Die einfachste Definition der Aktiven Imagination ist vielleicht die, dass sie uns die Möglichkeit gibt, Verhandlungen zu eröffnen und uns mit diesen Kräften und Gestalten des Unbewussten allmählich zu einigen. In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich vom Traum, in dem wir keine Kontrolle über unser eigenes Verhalten haben“.
Jung selbst empfiehlt in einem Brief 1932:
„Denken Sie sich z. B. eine Phantasie aus und gestalten Sie sie mit allen Ihnen zur Verfügung stehenden Kräften. Gestalten Sie sie, als wären Sie selbst die Phantasie oder gehörten zu ihr, so wie sie eine unentrinnbare Lebenssituation gestalten würden. Alle Schwierigkeiten, denen Sie in einer solchen Phantasie begegnen, sind symbolischer Ausdruck für Ihre psychischen Schwierigkeiten und in dem Maße, wie Sie sie in der Imagination meistern,
überwinden Sie sie in Ihrer Psyche.“ (Briefe I, S.146)
Im Rahmen der Reifung durch Individuation sind die Versöhnung mit dem Dunklen Bruder, die Traumarbeit und die Anima-Animus-Integration sehr wichtig.
Es geht also um die Wiederherstellung der Einheit und die Entwicklung der
„ganzen Person“. Person kommt von lat. „personare“, d. h. durchtönen. In der griechischen Tragödie tönte bei den Darstellern durch die Maske (Persona) die Botschaft der Götter. Wenn Dürckheim von „Person werden“ sprach, meinte er, dass man einen Übungsweg zu vollziehen hat, um „transparent zu werden für die immanente Transzendenz“, die er auch das „Wesen“ nannte.
Mir gefällt immer wieder der Ausspruch von Brigitte Dorst, dass die Tiefenpsychologie uns bis an die Türe Gottes führen kann.
Es gibt noch einen Weg, der Psychologie und Spiritualität miteinander verbindet. Die Transpersonale Psychologie ist ein Teilfeld der Psychologie, die Aspekte der menschlichen, spirituellen Erfahrung mit der modernen Psychologie verbindet. Es ist auch möglich, diese Richtung als eine „spirituelle Psychologie“ zu definieren.
Die Entwicklung des inneren Wachstums durch Erfahrung der Spiritualität sei hier nur stichwortartig erwähnt.
Das kann durch viele Wege geschehen. Ich bevorzuge die ZEN-Meditation seit nunmehr 31 Jahren, initiiert durch Karlfried Graf Dürckheim. Nach seinem Tod wurde ich Schüler von Willigis Jäger.
Aikido, Judo, Kyodo, Ikebana sind andere ZEN-Wege. Yoga ist vielen bekannt, aber leider oft nur als Gymnastik praktiziert und nicht als Meditation. Die Kontemplation ist ein im Christentum bevorzugter Weg.
Es geht immer um die Übung der Achtsamkeit im Augenblick. Das kann auf der Matte geschehen oder in vielen Erfahrungsräumen, die ich in meinem Buch
„Leben im Goldenen Wind“ beschrieben habe. Dazu gehören Natur, Musik, Kunst, Tanz, Theater, Begegnung, Krankheit, der ganze Alltag, egal, wo wir sind und üben.
In den USA entwickelt sich, ausgehend von Kalifornien vor 5 Jahren, eine große
Bewegung für mehr Achtsamkeit und Mitgefühl in der Wirtschaft.
Zynga, PayPal, Google, Apple, Microsoft, LinkedIn, Cisco, um nur ein paar zu nennen, begannen mit großem Erfolg die erste Wisdom 2.0 Konferenz in Mountain View/Kalifornien (24). Viele Konferenzen folgten mit wachsenden Teilnehmerzahlen. Ich nahm an der Konferenz WISDOM 2.0 in Dublin in der Google-Zentrale im September 2014 teil. „Achtsamkeit und Mitgefühl im digitalen Zeitalter“ war das Thema. Achtsamkeit ist nur der Anfang eines spirituellen inneren Wachstums. Das wird die ganze Denkweise und Verhaltensweise der Mitarbeiter ändern.
Nun unterstützen diese Unternehmen das innere Wachstum ihrer Mitarbeiter. Es gibt eine tiefe Sehnsucht in der jungen Y-Generation, in einem Unternehmen zu arbeiten, das ihre inneren Werte fördert. Die Unternehmen, die dieser Nachfrage folgen, sind die Gewinner. Sie bekommen die besten Talente.
Mindfulness (Achtsamkeit) und Compassion (Mitgefühl) sind Ausdrücke und
Übungen aus dem Buddhismus, der bei Google wohl am stärksten seinen Einfluss hat. Es wird berichtet, dass, nachdem Thich Nhat Hanh im Google Headquarter war, es dort sog. „mindfull lunches“ gibt. Er forderte die Mitarbeiter auf, durch Meditation in sich mehr Raum zu schaffen, und behauptete, dass Unternehmen sich verändern, wenn die Mitarbeiter sich verändern.
Das gibt Hoffnung für die Zukunft.
Auch, wenn man heute vielleicht noch vermuten könnte, dass diese Bewegung eher opportunistisch angelegt sei, so wird sich über Jahre auch das Unternehmen zu mehr Menschlichkeit entwickeln.
Integrale und Nachhaltige Wirtschaftsethik 3.0
Wieso ist diese Neue Ethik eine Integrale Ethik?
Jean Gebser (25) entwickelte die nachfolgenden Strukturen und Stufen menschlichen Bewusstseins:
1) Die archaische Struktur
2) Die magische Struktur
3) Die mythische Struktur
4) Die mentale Struktur
Eine Struktur entwickelt sich aus der anderen und ist in der anderen auch noch in Fragmenten enthalten.
Gebser geht davon aus, dass wir uns aus dem derzeitigen mentalen Bewusstsein wegen der nach und nach erkannten Defizite in ein integrales Bewusstsein hineinentwickeln, in dem wir alles, was vorhanden ist und uns bewusst ist, integrieren.
Das Adjektiv integral wurde erstmals in einem spirituellen Kontext von Sri Aurobindo (1872-1950) verwendet.
Die neue Wirtschaftsethik 3.0 ist integral über alles, was wir wissen, und beinhaltet frühere Ethikansätze. Sie ist ein Integral über alles, was wir hinsichtlich Ethik und Moral gelernt und bisher erfahren haben. Sie beinhaltet die Vernunft anstelle des Verstandes und des Denkens, zahlreiche philosophische Richtungen, ausgehend vom aristotelischen Ansatz und den nachfolgenden Erkenntnissen der Ethik-Philosophen. Sie beinhaltet auch theologische Überlegungen von vielen verschiedenen Religionen, die Psychologie und hier besonders die Tiefenpsychologie sowie die Spiritualität der Lehren der Weisheit des Ostens und Westens.
Wie Gebser sagte, entwickelt sich immer eine Bewusstseinsstufe aus der vorhergehenden, und so ist es auch bei der Ethik. Sie entwickelt sich aus der vorhergehenden und ist auch in der nachfolgenden Ethik noch vorhanden. Um die Integrale Ethik auch in der Wirtschaft anzuwenden, ist eine qualifizierte Ausbildung und langjährige Erfahrung in der Unternehmensführung eine wichtige Voraussetzung. Ohne praktische Geschäftserfahrung bleibt Ethik oft im theoretischen Ansatz oder im Appell stecken, und dann besteht das Risiko, dass sich der Manager unter Druck doch unmoralisch verhält.
Von der Integralen Ethik zur Nachhaltigen und Integralen Ethik:
Wie schon erwähnt, bedeutet für Hans-Peter Dürr Nachhaltigkeit: „Das Lebende lebendiger werden lassen!“
Wenn man eine integrale Ethik nachhaltig lebt, dann achtet man darauf, dass möglichst alle Entscheidungen das Lebende in uns selbst, in anderen Menschen, in Tieren und in der ganzen Schöpfung lebendiger werden lassen. Deshalb ist es mir wichtig, die Neue Integrale Wirtschaftsethik 3.0 auch nachhaltig zu nennen.
Dank dem Internet und der großen Offenheit des Erfahrungs-und Gedankenaustauschs hat die Menschheit beispiellosen Zugang zu einem Verständnis, das alle Aspekte der Wirtschaftsethik 3.0 beinhaltet. Sie ist die ideale neue Ethik für die
heutige digitalisierte und globalisierte Wirtschaft, um aus der ganzen Tragik ihres oft unmoralischen Verhaltens herauszukommen.
Integrative Wirtschaftsethik
Die Integrale Wirtschaftsethik 3.0 bietet zusätzlich einen sehr wichtigen, aktiven und bewussten „integrativen“ Ansatz. Dieser neue ethische Ansatz trennt nicht, sondern integriert und führt zusammen. Er beinhaltet hell und dunkel, gut und böse, Subjekt und Objekt, männlich und weiblich, jung und alt, Ich und Selbst, Ego-Geist und Vernunft, Lieferanten und Kunden, Unternehmen und Aktionäre, Führungskräfte und Mitarbeiter, Unternehmen und Umwelt. Alle diese scheinbaren Gegensätze sind lediglich Polaritäten der einen Wirklichkeit, die nicht beschrieben, sondern nur erfahren werden kann. Die Erfahrung der gegenseitigen Verbundenheit entwickelt und verbessert sich sowohl aus der modernen Quantenphysik und Tiefenpsychologie seit hundert Jahren als auch aus der Mystik seit tausenden von Jahren und integriert die scheinbaren Gegensätze in einer einzigen Einheit. Dieser Vereinigungsprozess ist das, was Jung als Individuation bezeichnet und der zur „Coincidentia Oppositorum“ führt, die natürlich und verständlicherweise nahtlos zu ethischen und moralischen Entscheidungen und Verhaltensweisen führt.
Anwendungsbeispiele in der Wirtschaft
Die Neue Integrale und Nachhaltige Wirtschaftsethik 3.0 kann und sollte in allen Bereichen der Wirtschaft Einzug halten.
Dann könnte John Maurice Clark (26), der vor 100 Jahren in einem Aufsehen erregenden Artikel behauptet hat, dass verantwortliches Handeln in der Wirtschaft auch profitabel sein kann, doch Recht behalten, obwohl man derzeit den Eindruck gewinnen kann, dass der besonderes erfolgreich ist, der unmoralisch ist und anderen zum eigenen Nutzen schadet.
Stichworte für Anwendungsgebiete in der Wirtschaft:
– Nachhaltige Personalführung
– Nachhaltige Intuition und Innovation
– Nachhaltige Unternehmensführung
– Nachhaltige Akquisitionen
– Nachhaltige Investitionspolitik
– Nachhaltige Unternehmenssteuerpolitik
– Nachhaltige Strukturen und Organisationsabläufe
– Nachhaltige Kundenbindung
– Nachhaltiges Marketingkonzept
– Nachhaltiger Umweltschutz
– Nachhaltiges Verbraucherverhalten
Hat der ethische und stets moralisch handelnde Mensch überhaupt eine
Chance in der Wirtschaft?
Wird er nicht zu sehr bekämpft von denen, die ungehindert ihre schmutzigen
Geschäfte machen wollen?
Meine Antwort ist klar: JA, er hat eine Chance. Es sind zu Anfang jedoch immer wenige, die das Alte verlassen, wenn es unerträglich wird, und zu neuen Ufern aufbrechen.
Mahatma Ghandi: „Be the change you want to see the world changing“ und
„Instead of improving the world let us concentrate on self-improvement.“
Literatur
1) David W. Gill, Business Ethics 2.0: Beyond Damage Control, May 14th
2) Hans Küng et al., Manifest Globales Wirtschaftsethos, dtv, (2010)
3) Franz Alt, Dalai Lama, der Appell des Dalai Lama an die Welt: Ethik ist wichtiger als Religion, Benevento, (2015)
4) Edward Edinger, Commentary of Aion Lectures of C. G. Jung
5) Papst Franziskus, Laudato Si, Enzyklika, w2.vatican.va, (2015)
6) Lance S. Owens, The Red Book Lectures, www.gnosis.org
7) Jürgen Manemann, Kritik des Anthropozäns: Plädoyer für eine neue
Humanökologie, xtexte (2014)
8) Ulrich Horstmann, Das Untier. Konturen einer Philosophie der Menschen-
flucht, Bibliothek des skeptischen Denkens (2012)
9) Christian Schwägerl, Menschenzeit: zerstören oder gestalten? Wie wir heute die Welt von morgen erschaffen, Goldmann (2012)
10) Julius Evola, Revolte gegen die Moderne Welt, Ansata, (1982)
11) Friedrich A. von Hayek, Missbrauch und Verfall der Vernunft, Knapp, (1959)
12) Thomas Arzt, Friedrich Gaede, Der Gegenlauf: Das „grausame Gesetz“
der Geschichte, Königshausen und Neumann, (2012)
13) Silja Graupe, Jochen Krautz, OECD Guidelines-Die falsche Entscheidung,
FAZ, 06.12.2013
14) Benedikt Herles, Die Kaputte Elite: Ein Schadensbericht aus unseren Chefetagen, btb, (2014)
15) Fredmund Malik, Wirtschaftsethik: Die verlorene Generation, Die Zeit,
01.12.2005
16) Peter Knauer, Handlungsnetze: Über das Prinzip der Ethik, Books on Demand GmbH, (2002)
17) Willigis Jäger, Zen und Ethik-Mystik und Ethik, Vorträge Benediktushof
18) Peter Pruzan, Spiritual-Based Leadership, The Palgrave Handbook of
Spirituality and Business, Palgrave Macmillan, (2011)
19) C. G. Jung, Sonu Shamdasani, Christian Hermes, Das Rote Buch, Patmos, (2013)
20) Erich Neumann, Tiefenpsychologie und eine neue Ethik, Fischer, (1986)
21) Erich M. Walch, Die Integration des Schattens, im JUNG Journal Heft
Nr. 32, September 2014
22) Hans-Peter Dürr, Das Lebende lebendiger werden lassen: Wie uns neues
Denken aus der Krise führt; oekom, (2011)
23) Brigitte Dorst, Ralf T. Vogel, Aktive Imagination: Schöpferisch leben aus inneren Bildern, Kohlhammer, (2014)
24) Soren Gordhamer, Wisdom 2.0: The New Movement toward Purposeful Engagement in Business and Life
25) Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart, Novalis, (1999)
26) John Maurice Clark, The Changing Basis of Economic Responsibility, in the
Journal of Political Economy, 24 (3), 1916, pp. 209-229.